Mastodon

Wenn Sie auf Instagram und LinkedIn aktiv sind, werden Sie irgendwann in die Fänge von Flitzpiepen geraten, die vorgeblich »dein Business voranbringen« wollen. Dieser Terminus ist der erste Hinweis darauf, dass es sich offenbar um eine Flitzpiepe handelt. Der zweite Hinweis auf Flitzpiepentum ist, dass für den Erfolg von »deinem Business« ganz offenbar das Allheilmittel »Reichweite« ausreicht, worüber ich an dieser Stelle bereits ausführlich geschrieben habe. Und der dritte Hinweis auf eine Flitzpiepe ist der Begriff »Sales Funnel«.

Was ist ein Sales Funnel?

Stellen Sie sich vor, Sie hätten Ihr Unternehmen frisch gegründet. Die Ausgangslage ist also: 

  • Ihr Unternehmen ist völlig unbekannt.
  • Ihr Angebot ist völlig unbekannt.
  • Ihr Unternehmen hat keine Kunden.

Um in einer solchen Situation Neukunden zu gewinnen, hat sich eine bestimmte Vorgehensweise bewährt, die von vielen Marketing-Leuten gerne als Sales Funnel – zu Deutsch: Verkaufstrichter – bezeichnet wird. Es handelt sich dabei um die bildhafte Darstellung eines kompletten Verkaufsprozesses (neudeutsch: Customer Journey) mit all seinen Phasen vom erstmaligen Kontakt einer Person mit Ihrem Unternehmen über die Meinungsbildung bis hin zur Kaufentscheidung. 

Über die obere Öffnung des Trichters betreten viele potenzielle Kunden den Verkaufsprozess und werden dann nach unten verdichtet. Am unteren Ende des Trichters kommen dann deutlich weniger tatsächliche Kunden heraus, als potenzielle Kunden den Trichter ursprünglich betreten haben. 

Es gibt Sales Funnel nicht nur für das Beispiel einer Neugründung, sondern für jeden beliebigen Verkaufsprozess und in beliebiger Komplexität. Für den Anfang reicht ein ziemlich einfaches und gut bekanntes Modell jedoch vollkommen aus: das AIDA-Modell. (Wie ein Sales Funnel grundsätzlich funktioniert, beschreibt übrigens mein Online-Marketing-Kollege Andreas Just auf seiner Website in allen Einzelheiten.)

Das AIDA-Modell

Das AIDA-Modell ist ein typischer Sales Funnel.
Sales Funnel nach dem AIDA-Modell. Quelle: eigene Darstellung

Die Mutter aller Sales Funnel, das AIDA-Modell, besteht aus vier Phasen. Das AIDA-Modell ist wie die meisten Sales Funnel ein linear aufgebautes System, bei dem eine Person nacheinander mehrere aufeinander aufbauende Phasen oder Stufen durchläuft, um am Ende eine Kaufentscheidung zu treffen. Die vier Phasen des AIDA-Modells sind:

  • Attention bzw. Awareness (Aufmerksamkeit). Der:die potenzielle Kund:in wird auf Ihr Angebot aufmerksam. Dies geschieht in der Regel durch Werbung oder durch interessanten Content.
  • Interest (Interesse). Der:die potenzielle Kund:in erfährt von den Vorteilen und dem Nutzen Ihres Angebots und beginnt sich dafür zu interessieren. Damit wird er:sie zu einem sogenannten Lead (engl.: Hinweis oder Tipp; im Marketing ist damit ein:e Interessent:in gemeint).
  • Desire (Verlangen oder Begehren). Der Lead entwickelt eine positive Einstellung Ihnen gegenüber. Aus dem bloßen Interesse erwächst ihm:ihr der Wunsch, Ihr Angebot tatsächlich anzunehmen. Er:sie beginnt, eine Kaufabsicht auszubilden. 
  • Action (Handlung). Der Lead nimmt Ihr Angebot an, kauft und wird so zu einem:r Kund:in.

Mängel des AIDA-Modells

Das AIDA-Modell ist seit mehr als einem Jahrhundert im Einsatz und damit eines der ältesten Verkaufsprozessmodelle überhaupt. Bis heute wird es intensiv im Marketing und in der Werbung angewendet. Doch obwohl es schon so lange eingesetzt wird – oder vielleicht gerade, weil es schon so alt ist – gibt es heftige Kritik an Trichtermodellen wie AIDA, der ich gerne aus meiner Sicht des Social-Media-Marketings zustimmen möchte. Denn so nachvollziehbar und einfach der AIDA-Sales-Funnel für das komplexe Problem des Verkaufs auch zu sein scheint, so groß sind nämlich auch seine Mängel im digitalen Zeitalter: 

  • Einfache Funnel-Modelle wie AIDA gehen davon aus, dass ein einfacher Reiz wie zum Beispiel eine Werbeanzeige eine unmittelbare Reaktion, zum Beispiel Interesse, auslöst. Das menschliche Verhalten ist jedoch nicht so leicht vorherzusagen – wir sind zwar primitiv, aber dann doch nicht so primitiv.
  • Was im Teleshopping (»Und wenn Sie dieses formschöne und farbenfrohe Mono-FM-Duschradio für nur 139,99 Euro, ach was: 129,99 Euro, ach was: 119,99 Euro JETZT bestellen, bekommen Sie diese wunderschöne Speckstein-Skulptur in Katzenform VOLLKOMMEN GRATIS dazu! Und schauen Sie mal: Die Augen der Katzenskulptur sind aus Katzengold! Ist das nicht AL-LER-LIEBST?«) oder an der Quengelkasse im Supermarkt (»Oh! Eine neue Kaugummi-Marke! Was ist das denn? Waldmeister-Himbeer-Honigmelone-Geschmack? Das kenne ich noch nicht. Wie das wohl schmeckt? Mal ausprobieren. Kostet ja auch nur knapp einen Euro…«) vielleicht noch funktioniert, funktioniert auf dialogorientierten Plattformen wie Social Media nicht mehr. Hier wünschen sich die Nutzer:innen schlicht und ergreifend andere Inhalte als Werbung. Funnel-Systeme liefern ihnen jedoch weder nützliche noch informative noch unterhaltsame Inhalte, sondern lediglich reine, langweilige Push-Werbebotschaften.
  • Social-Media-Nutzer:innen ignorieren Werbebotschaften im Regelfall. Werbung wird allenfalls noch selektiv konsumiert, aber mehrheitlich von den Konsument:innen abgelehnt. Die Menschen haben längst Verhalten und Muster entwickelt, um Werbebotschaften bewusst und unterbewusst auszuweichen – ein Prozess, der Banner Blindness heißt und schon seit 1998 (!) wissenschaftlich erforscht wird (Link zum PDF der Studie). Und damit funktionieren die simplen Wenn-dann-Beziehungen der Sales Funnel nicht mehr.
  • Nach dem Kauf eines Produkts auftretende Effekte – etwa die Abgabe einer negativen Online-Bewertung – werden von AIDA-Funneln vollständig ignoriert. Sie können jedoch erhebliche Auswirkungen auf die weitere praktische Nutzbarkeit des Funnels haben: Gibt es zu viele negative Bewertungen, kollabiert das System automatisch, siehe nächster Punkt.
  • Heute haben Sie es mit zunehmend kritischer werdenden Käufer:innen zu tun, die durchaus auch eine Suchmaschine wie Google (oder das von mir bevorzugte Ecosia) bedienen können und gezielt nach Erfahrungsberichten bisheriger Käufer:innen und gleichzeitig auch noch nach günstigeren Alternativen suchen.
  • Und zu guter Letzt: Die Wirksamkeit des AIDA-Modells konnte trotz seines Alters und vieler Untersuchungen zur Funktionsweise wissenschaftlich nicht hinreichend belegt werden. Bis heute konnte noch nicht einmal nachgewiesen werden, dass AIDA das tatsächliche Kaufverhalten hätte in irgendeiner Form vorhersagen (!) – geschweige denn beeinflussen – können.

Alternativen zum AIDA-Sales-Funnel

Es gibt durchaus Alternativen zum AIDA-Modell, zum Beispiel das AISDALSLove-Modell. Dabei handelt es sich um eine Überarbeitung und Erweiterung des AIDA-Sales-Funnels, in das weitere Phasen zu Suche, Bewertung des Verkaufsprozesses, deren Weitergabe an andere und eine dauerhafte Emotion zum Kauf Einzug gehalten haben. 

Persönlich überzeugt mich das AISDALSLove-Modell jedoch nicht sonderlich, weil es noch immer zu sehr vom Verkäufer ausgeht. Ich bevorzuge eher das NAITDASE-Modell. Auch das basiert auf AIDA, setzt aber den Bedarf des:r Kund:in und das gegenseitige Vertrauen in den Mittelpunkt des Geschehens – und das passt sehr gut zur Dialogorientierung von Social-Media-Marketing, besonders dann, wenn Sie in Richtung Content Marketing denken. Interessant beim NAITDASE-Modell ist, dass es darin gar nicht primär um den Verkauf als solches geht, sondern viel eher um eine langfristige und nachhaltige Kund:innenbeziehung, die auf Vertrauen und Zufriedenheit für beide Seiten – Verkäufer:in wie Käufer:in – basiert. Das resultiert dann mittel- bis langfristig in Käufen – und gleichzeitig einer nachhaltigen Kundenbeziehung, was zu einer hohen Customer Lifetime Value führt. Genauer beschreibe ich beide Modelle übrigens in meinem Buch »Social-Media-Marketing für Dummies« (Link zu Amazon), das im Buchhandel verfügbar ist.

Der Verkaufstrichter ist ein falsches Bild

Persönlich hadere ich sehr mit dem Begriff des Funnels beziehungsweise des Trichters. Ich halte ihn im Zusammenhang mit Verkaufsprozessen eigentlich für komplett falsch. Warum? Ganz einfach: 

Stellen Sie sich einen Küchentrichter vor. Oben gießen Sie einen Liter Wasser hinein. Was kommt unten raus? Genau: ein Liter Wasser. Es kommt exakt so viel heraus, wie Sie oben hineinschütten. Es wird nicht weniger. Auch kommt unten kein Weißwein heraus, sondern es bleibt beim Wasser. Genau das aber suggerieren Sales-Funnel-Modelle in Trichterform: Oben gießen Sie viel billiges Zeugs (Aufmerksamkeit von vielen) rein, unten kommt zwar weniger, aber dafür besseres Zeugs raus (Verkäufe bzw. andere Conversions durch wenige).

Menge und Qualität ändert sich in einem Trichter nicht! Die Annahme ist also töricht, dass in einen Verkaufstrichter oben eine große Zahl von Interessent:innen reingeht und unten eine kleinere Zahl von Käufer:innen herauskommt. In Wahrheit sieben Sie. 

Besser als der Trichter: das Sieb

Wissen Sie, wie ein Komposthaufen funktioniert? Ich habe einen in meinem #SocialMediaGarten, und für alle, die davon keine Ahnung haben, hier ein kurzer Abriss: 

  • Sie schmeißen Ihre ganzen Gartenabfälle auf einen lockeren Haufen.
  • Im Laufe der Zeit machen Mikroorganismen und Kompostwürmer alles zu feinkrümeligem Humus.
  • Diesen Humus werfen Sie zur Düngung auf Ihre Beete.

Jedoch wollen Sie wirklich nur den feinkrümeligen Humus haben. Die Mikroorganismen haben aber an manchem Zeugs ganz schön zu knabbern. An den Pfirsichkernen etwa, oder auch an den daumendicken Ästen, die ich mit auf den Kompost geworfen habe. Also müssen Sie, bevor Sie an den schönen, feinkrümeligen Humus kommen, das grobe Geäst und die anderen, noch unzersetzten Bestandteile heraussieben.

Dafür gibt es Durchwurfsiebe. Ich habe welche in drei Maschenweiten: eines ist grob, eines mittelgrob, eines ist sehr fein.

Und durch diese drei Maschenweiten schippe ich meinen Kompost. Das ist zwar anstrengend und zeitraubend, lohnt sich aber:

Das, was schon im ganz groben Sieb hängen bleibt, lag meist noch nicht so lange auf dem Haufen. Das landet gleich wieder auf dem Kompost, diesmal ganz zuunterst. Direkt darauf werfe ich das, was am zweiten Sieb hängen bleibt. Darauf kommt dann das, was es auch nicht durch das dritte Sieb schafft. Aber das, was durch die dritte Maschenweite kommt, das ist dann super feinkrümelig und total toller Humus. Und das war das Ergebnis, für das ich die ganze Zeit geschuftet habe.

Klingt genau wie das, was wir bisher mit einem Trichter beschrieben haben, oder? Genau: Viel sinnvoller wäre es deshalb, den Verkaufsprozess als eine Art Abfolge oder als eine Kaskade von Sieben zu beschreiben. Erst grob, dann immer feiner werdend. 

Wenn das so sinnvoll ist, warum wird dann der Begriff »Verkaufstrichter« benutzt statt des Begriffs »Siebkaskade«? Naja, vielleicht weil es nicht so cool klingt – noch nicht einmal auf Englisch (»Sieving Cascade«). Außerdem besitzt das englische Verb to funnel auch noch einige andere Bedeutungen, nämlich leiten oder kanalisieren oder in die richtige Bahn lenken. Das gibt dem Begriff des Sales Funnels eine völlig andere Richtung – wir verengen damit unseren Verkaufsprozess und richten ihn auf ein konkretes Ziel. Wir bemühen uns also um die Kontrolle der Customer Journey! In diesem Zusammenhang ergibt der Begriff einen viel größeren Sinn – nicht als Hauptwort, sondern als Verb: nicht »the sales funnel«, sondern »to funnel sales«. Zu meinem Leidwesen (und Unverständnis) jedoch stellen selbst Marketing-Leute aus dem englischen Sprachraum nicht den Bezug zum Leiten oder Kanalisieren her, sondern visualisieren ihre Sales Funnel in der Regel wie einen Küchentrichter. Und die Flitzpiepen fallen ohne Nachzudenken scharenweise drauf rein. Es ist zum Haare raufen.